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Das Nähkästchen der Frau Verzjeve

Im November 2018 führte uns der Betriebsausflug nach Maastricht. Neben den beiden Basiliken gab es Stadtgeschichte zu entdecken. Wir hatten das Glück, einem engagierten Stadtführer zu begegnen, der viele Details der Geschichte kannte. Seine Begeisterung sprang auf uns über. Wir schlenderten durch verwinkelte Gässchen, blickten in Hinterhöfe und auf kleine Flüsse, stolperten über Kopfsteinpflaster und konnten doch nie genug bekommen. Besonders die Figur der Frau Verzjeve mit ihrem Nähkästchen hatte es uns angetan. Darum möchte ich eine Geschichte weitererzählen, die wir von unserem Stadtführer Jo Mathijssen gehört haben:

In der Straße mit dem Namen Lange Grachtje (Langer kleiner Graben) sieht man Steinreste an der Stadtmauer. Dort hat es in früheren Jahren Armenhäuser gegeben. Sie bestanden aus nur einem Raum und einem Dachboden.

Dort lebte einst eine Familie mit zwei Töchtern. Die Eine der Töchter wollte heiraten. Nun war es schon damals sehr schwer für Töchter armer Leute, ohne Geld zu heiraten. Wie sollte man an das Geld kommen? Die Familie kam auf eine Idee: Man kaufte vier Kaninchen, die wollte man mästen und nach einiger Zeit mit Gewinn wieder verkaufen. Die Kaninchen wurden auf dem Dachboden gut untergebracht und wurden von der jüngsten Tochter gefüttert.

So weit, so gut.

Doch eines Tages waren die Kaninchen weg. Man suchte und suchte und konnte sie nirgends finden. Was war passiert? Erst am Abend kam Licht in die Sache: Der Vater kam mit besoffenem Kopp und zwei Freunden heimgetorkelt. Ihn hatte der große Durst ergriffen. Er hatte sich keinen anderen Rat gewusst, als die Kaninchen vorzeitig gegen Geld auszutauschen. Von dem Geld kauften er und seine Freunde sich Bier und Schnaps. Der Durst wurde gelöscht. Aber glücklich wurden die drei Männer nicht. Sie wurden von der Mutter und einer Nachbarin ordentlich verprügelt. Da beschloss der Vater, aus der Planung der Hochzeit auszusteigen. Er verkrümelte sich lieber. Nun war die Familie wirklich in Not. Die Hochzeit war ja schon geplant, der Termin stand fest, aber es gab kein Geld. Guter Rat musste her. Man grübelte und suchte nach Lösungen. Bis endlich eine der Nachbarfrauen sagte:

Dann müssen wir halt wieder das Nähkästchen von Frau Verzjeve verlosen.

Gesagt, getan. Im Viertel gab es Arme und Leute mit etwas mehr Geld. Man stellte Lose her, die wenig kosteten. So konnte jeder ein Los kaufen und das Geld kam zusammen. Die Familie war getröstet, das Mädchen konnte verheiratet werden. Alle waren glücklich und zufrieden.

Aber der eigentliche Clou an der Geschichte ist die Tatsache, dass Frau Verzjeve ihr Nähkästchen immer noch hatte. Es gab keinen Gewinner. Oder anders gesagt: Gewonnen hatte nur die Tochter. Und die Gemeinschaft der Armen hatte wieder einmal super funktioniert.

Bis auf den heutigen Tag geht die Frau Verzjeve mit ihrem Nähkästchen beim Karnevalszug mit. So wird die Erinnerung an sie bewahrt. Sie muss eine kluge Frau gewesen sein mit vielen guten Ideen und großem Herz. Und mancher Stadtführer erzählt den Touristen davon. Übrigens gab es damals 40 Brauerein in Maastricht. Bier war gesünder als Wasser, weil es durch den Brauvorgang keine Keime enthielt. Wasser wurde aus der Erde hochgepumpt und war voller Keime. Im Brauverfahren wird das Wasser gekocht. "Unsere lebenslustige Art stammt aus dieser Zeit", sagte unser Stadtführer Jo Mathijssen, der uns diese Geschichte erzählte. "Wir sahen uns genötigt, Bier zu trinken. Übrigens lebten die Leute von Maastricht montags noch gesünder. Es gab das Bier zum halben Preis, weil dienstags frisch gebraut wurde. Der Hintergrund war damals, dass Bier nur eine Woche haltbar war."

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Quellen

Bücher

Mestreechter Vertelsel, Alfons Olterdissen, Herausgeber: Vroom en Dreesmann, Maastricht (das war eine Kaufhauskette so wie Kaufhof), 2. Auflage 1975

Prozawerken, Alfons Olterdissen, Herausgeber/Drucker : Leiter-Nypels Maastricht. 1. Auflage 1926

Stadtführer und Erzähler

Jo Mathijssen

Link

https://dbnl.org

https://dbnl.org/tekst/olte001alfo01_01/olte001alfo01_01_0056.php

Youtube

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