Noch weht der Wind kalt, aber die Sonne scheint bereits kräftig. Im Garten kommen die ersten Knospen und in unserer Nachbarschaft werden die Beete gesäubert. Eine Nachbarin bietet mir Bärlauch an. Er wächst wild hinter dem Haus. Wir unterhalten uns über Pesto. Wir stehen nah beieinander. Nicht näher als gewöhnlich, aber es ist die Zeit der Pandemie und wir sollten 2 m Abstand halten. Kurz darauf seh ich sie mit einem Eimer bunter Kreide auf der Veranda hocken. Sie malt ein Mandala. Bald wird es regnen. Wir sprechen über Vergänglichkeit.
In diesen Tagen, so sagt man, kommt das Eigentliche des Menschen zu Tage. Wir sind im Ruhrgebiet. Da spricht man von "über Tage" und "unter Tage". Die einen horten Clopapier, die anderen beobachten interessiert die Zeitläufte. Man erzählt sich Geschichten. In Frankreich sind Kondome und Rotwein alle, in Deutschland Clopapier und Nudeln. Unter Tage war der Mensch bewahrt und geschützt. Die Eigenständigen in meiner Nachbarschaft leben in Sorge. Aber auch die gut Abgesicherten leben in Sorge. Die Jugendlichen, die nie etwas von Not am eigenen Leib erfahren haben, und deren Eltern immer das Beste für sie wollen, versammeln sich. Scheiß was auf 2 m Abstand. Man feiert Coronapartys. Man weiß es nicht anders.
Die Kirche will ihre Gottesdienste streamen und der letzte Bürger merkt, dass es die Kirche gar nicht gibt. Es gibt Menschen. Wir sind alle Individuen. Die einen machen Party, die anderen retten ihre Schätze (und sei es Clopapier) und die nächsten freuen sich, dass die Sache mit der Digitalisierung endlich in Schwung kommt. Man will also Gottesdienste streamen. Die Alten, die man für schutzbedürftig hält, haben den Krieg erlebt. Sie bleiben gelassen, gehen einkaufen und findet, dass es so schlimm nun auch wieder nicht ist. Eine Hyperkatholikin, die keinen Gottesdienst ausläßt und alle nötigt mitzukommen, sagt offen, dass sie ganz froh ist, endlich von der Sonntagspflicht befreit zu sein.
Im Garten duftet der Thymian und es wird Zeit, den Bärlauch zu Pesto zu verarbeiten.
Die einen schuften sich zu Tode (Ärzte, Pfleger, Feuerwehrleute), die anderen machen Kurzarbeit (der komplette Dienstleistungsbetrieb). Ich sitze da und werde nicht gebraucht. Denn die Heime, in denen ich normalerweise ein und aus gehen, sind dicht. Ich bin ein potentieller Todesbote. Ich bin auch ein Digital Resident und tummel mich mit anderen im World Wide Web. Wir tauschen uns aus, bilden Meinung (Influencer sind wir) und erfahren, dass Gott überall ist (mehr oder weniger erfahren wird das; also die Kirchenleute, die erfahren das (es sei denn, sie merken es nicht)). Mein Cousin findet, die Kirche sollte jetzt endlich mal die Bibel neu interpretieren, aber er weiß selber nicht, was er damit meint. Ich verstehe, dass er mir sagen will, dass die Kirche doof ist. Ist ja auch doof, wenn man nicht ernst genommen wird. Diese Kirche versucht nun am Markt zu bleiben, denn nun ist endgültig klar, dass die Sonntagsmesse nicht das Rückgrat des Glaubens sein kann. Wie Dr. Doris Reisinger aus dem Handgelenk twitterte:
Der Kirchbesuch ist nicht identlisch mit dem Glauben.
Aber wie sagen wir es den Entscheidern, den Influencern und den Amtsinhabern (wenn sie es noch nicht selbst wissen). Nein, Kirche ist nicht identlisch mit Gott. Das weiß auch der Papst, der neulich sagte, alle Menschen würden von Gott geliebt. Du liebe Güte! Das ist harter Tobak für die Gerechten. Wir Sünderinnen freuen uns. Wir wussten schon immer, das Gott uns liebt. Der Frühling kommt. Noch weht ein kalter Wind. Aber die Sonne rötet bereits unserere Gesichter, wenn wir uns lange in ihr aufhalten.