Gott zu begegnen wäre schön, aber irgendwie habe ich auch Angst davor. In ihrer Berufungsgeschichte erzählt Hildegard von Bingen von einer Begegnung mit Gott. Sie soll nicht das verkünden, was sie denkt, verkünden zu müssen, sondern das, was sie von Gott selber in Gottes Sprache hört. Ein Licht durchflutet sie. Ein grelles Licht. Sie verliert die Kontrolle über sich selbst.
Gott zu begegnen, verlangt ein starkes Selbstbewusstsein. Ich bin selbstbewusst. Aber ich fühle mich nicht stark.
Es gibt ein neues Buch, mit dessen Hilfe ich an dieser Stelle weiterkommen möchte.
Das große Hildegard von Bingen Lesebuch
Worte wie von Feuerzungen
Sr. Maura Zátony
Das hunsertdreiunddrölfzigste Lesebuch zu Hildegard von Bingen, aber mit Quellenangaben und statt einem Vorwort ein pädagogisch geschickt als "Lesenswertes vor der Lektüre" betiteltes Kapitel. Inhaltlich nichts Neues, aber es kommt auf die Didaktik an. Und die ist gelungen.
Wahrscheinlich finden Sie es in der gut sortierten Klosterbuchhandlung Ihres Vertrauens und können mal durchblättern. Es ist wie beim Kochbuch: Interessant wird es erst in der Praxis. Lesen, still sein, lesen, wirken lassen, in eigene Worte bringen (grade die Gebete und Lieder sind nicht so meine Sprache, aber wir können übersetzen).
Es kommen die ganz praktischen Lebensthemen wie Medizin und Persönlichkeitsentwicklung drin vor. Neu mag manchen beispielsweise der Diskretive Führungsstil sein. Hildegard von Bingen war Äbtissin mit einer Mission, die Politik nicht ausklammerte und die eigene Klostergemeinschaft nicht aus den Augen verlor. Da kann der Manager mit der dicken Hose noch was lernen. Nicht ohne Grund sind Kurse in Management und Auszeiten aller Art beliebt. Diese Zusammenschau all unserer Lebensfacetten macht Hildegard von Bingen für mich interessant. Ihre Antworten sind keine Kalendersprüche. Ihre Visionen sind sperrig. Gut so. Und dieses Lesebuch kann zwischen den Erkenntnissen der Hildegardforschung und dem ganz normalen zu lebenden Leben vermitteln.
Ob ich das Buch gelesen habe?
Natürlich nicht. Wie denn? Ich bleibe hängen und muss erst einmal das Gelesene auf Seite 32 durchschwitzen (Zitat Prof. Dr. Klaus Hollmann). Mit der Auswahl der Texte und den Einführungen von Sr. Maura Zátonyi kann ich was anfangen. Auch die Einteilung der Kapitel in Themen, die zwischen Hildegard von Bingen, ihrer Lebenswelt und der Jetztzeit changieren, ist klug und macht der Leserin Mut, die Lektüre zu wagen. Das wird dauern. Ich werde sie weglegen, Notizen machen, die Notizen verlegen, mich erinnern, ... . Dieses Lesebuch ist nicht zum Durchlesen gedacht, finde ich, sondern zum Studium. Also nicht für die Klausur und den Master, sondern fürs lebenslange Lernen. Eine Lebensbegleiterin sozusagen. Das gefällt mir.
Ich habe das Buch nicht gelesen, ich lese darin. Immerzu.