Es goß in Strömen. 30 Minuten vor Beginn saß eine 90jährige vergnügt unter ihrem riesigen Regenschirm auf einem Stuhl, den Pastor Arne Stolorz ihr eigens hingestellt hatte. 5 Minuten vor Beginn standen ungefähr 100 Menschen vor der Bühne. Die Stimmung war gelöst heiter. Zwar versuchte der eine oder andere Passant das Ganze albern zu finden, aber hatte damit keinen Erfolg. Evangelisch und Katholisch starteten ihr Stadtfest mit einem Gottesdienst.
Stadtfest und 500 Jahre Reformation
Wir hatten uns im Vorfeld gefragt, was das Eine mit dem Anderen zu tun haben könnte. Ist das nicht im Hauruck-Verfahren zueinander gebracht? Daraus entstanden eine Dialogpredigt und die Fürbitten. Auch die Lesung und die Gebete wurden entsprechend ausgewählt und formuliert. Der Evangelische Kirchenchor Sprockhövel begeisterte sein Publikum unter neuer Leitung.
Die Dialogpredigt
! Es gilt das gesprochene Wort.
A.S.: Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da war, und der da ist, und der da kommt.
Die meisten kennen diese Worte, liebe Stadtfestbesucher. Und wissen: Jetzt kommt die Predigt.
Aber heute wird die Predigt einmal anders. Der Hintergrund ist ein großes Jubiläum: 500 Jahre Reformation! Damit 500 Jahre Kirchenspaltung in katholischer und evangelischer Kirche. So gibt es natürlich auch zwei Sichtweisen auf dieses Ereignis, eine katholische und eine evangelische, auch wenn vieles von dem, was zu Luthers Zeiten zum Bruch führte, heute von beiden Kirchen einvernehmlich und versöhnlich gesehen wird. Deswegen werden meine katholische Kollegin Dorothee Janssen und ich hier und heute dialogisch predigen, im Gespräch.
Und es geht für mich auch gleich los mit der ersten Frage. Ich habe mich intensiv mit der Reformation beschäftigt, mit Ablass und Fegefeuer, Rechtfertigung und Gnade, mit Turmerlebnissen, Bauernaufständen, Renaissancepäpsten, Reichstagen zu Worms und zu Augsburg und mit reformatorischer Choraldichtung. Alles hochinteressant. Aber wenn ich an heute denke, und an unser Stadtfest, da will mir der Zusammenhang noch nicht so recht einleuchten. Anders gesagt, Dorothee Janssen, bei aller Verschiedenheit: Welche gemeinsame reformatorische Botschaft können wir den Gottesdienstbesuchern hier auf den Weg geben, die ankommt, zeitgemäß ist und etwas für das Stadtfest austrägt? Ist das nicht total aufgesetzt?
D.J.: Na, das ist ja mal eine Steilvorlage. Erlauben Sie mir, ganz persönlich zu antworten, also nicht „ex cathedra“. Nicht, dass hinterher jemand erzählt, die katholische Kirche meine Dieses oder Jenes, dabei ist es nur meine Überzeugung – weiter nichts. Ich stehe hier und bin nichts als die, die ich bin.
Und ich denke, wir feiern nicht 500 Jahre Kirchenspaltung. Das wäre aus meiner Sicht kein Grund zum Feiern. Wir feiern 500 Jahre Reformation. Anlass für 500 Jahre Reformation sind die 99 Thesen, die Luther veröffentlichte. Das ist ein Grund zum Feiern: Dass da einer so mutig war, für seine Überzeugung einzutreten. Sonst müssten wir vielleicht heute noch Geld bezahlen für alles, was uns wichtig ist. Nicht nur das Freisprechen von Schuld wäre ein Grund, Geld einzusacken. Was wäre so ein Stadtfest wie unseres noch wert, wenn wir nicht nur für Getränke und leckeres Essen zahlen müssten, sondern auch für Freundschaft, für Gastfreundschaft, dafür, dass jemand zuhört, dass jemand freundlich ist. Man kann ja aus allem Geld machen, wenn man Menschen in Angst versetzt und sie unterdrückt. Hier und heute soll es nicht so sein.
Wie finden Sie das?
A.S.: Das freut mich wirklich, dass Sie das so sehen können. Die Kirchen sind ja leider noch nicht so weit. Luther gilt seitens der Katholischen Kirche immer noch als Ketzer. Und dass man ihn in manchen evangelischen Kreisen regelrecht in den Himmel lobt, ohne seine Fehler und Widersprüche zu sehen, finde ich auch nicht gut. Luther war genial, aber weiß Gott kein Übermensch. Und dass er so viel bewegt hat, lag an seiner Persönlichkeit, aber die Zeit war auch reif dazu. Eben eine Zeit mit dem vorherrschenden Denken, dass man für Geld alles kaufen kann, selbst das Seelenheil. Und die Menschen auf der Verliererseite blieben auf der Strecke. Manchmal habe ich den Eindruck, dass wir wieder an diesem Punkt angelangt sind. Nur die Kirchen haben ihren Einfluss verloren. Da kann es wichtig sein, und zwar für Christen aller Konfessionen, an einem Strang zu ziehen, und an Menschen wie diesen Reformator Martin Luther zu erinnern, der deutlich machte: Die wichtigsten Dinge im Leben – und dazu zählen eben auch Freundschaft, Respekt, Achtung, Lebensglück und Liebe - sind immer ein Geschenk. Und eine Gesellschaft fängt da an zu faulen, wo nur noch die Leistung zählt und das Geld.
Noch eine Bemerkung am Rande: Luther war sehr fleißig, auch in seiner Auflistung vonDisputationsthesen. Aber 99 sind zu viel des Guten, es waren 95 Thesen. In der Erstversion, die Luther an seinen Bischof Albrecht von Brandenburg und an seinen Gegner Johann Tetzel schrieb, sogar nur 93.
D.J.: Ups. Wie bin ich denn auf 99 gekommen? Da hab ich wohl was verwechselt. Ja, es waren 95 Thesen, die Luther veröffentlicht hatte. Das finde ich sehr interessant, dass eine theologische Diskussion in der Öffentlichkeit stattfand. Damals war es bestimmt nicht anders als heute: Die wenigsten Mitmenschen werden verstanden haben, worum es da theologisch geht. Aber verstanden wurde das Christsein damals wie heute. Aus dem Bauch raus verstehen wir unseren Glauben von Christus her. Damals wie heute kann auch ein Nicht-Theologe verstehen, dass nur Gott Sünden vergeben kann und dass man für etwas, das man selber geschenkt bekommen hat, kein Geld verlangen darf.
Nochmal zum Thesenanschlag: Die Legende sagt, Luther habe die 95 Thesen an die Kirchentür genagelt. Heute findet alles öffentlich statt. Auch über Veränderungen in unseren Kirchen kann man alles jederzeit nachlesen. Aber es ist eine wahnsinnige Menge an Informationen, die man kaum verarbeiten kann, wenn man nicht beruflich damit zu tun hat.
Was kann man tun, damit Missverständnisse nicht zu Falschmeldungen werden? Wie verhindert man Frontenbildung? Wie bleibt man im Gespräch? Wie können wir dafür sorgen, dass alle Christen sich beteiligen? Ohne Zorn, mit Begeisterung. In unseren Kirchen, aber auch in der Politik.
Wir sollen das Salz der Erde sein, hat Jesus gesagt. Wir Christen könnten auch auf diesem Stadtfest wie Salz für den besonderen Geschmack sorgen. Denn diesen Auftrag hat Jesus uns mitgegeben: respektvoll, liebevoll miteinander umzugehen.
Da fällt mir ein: Martin Luther hatte in den Auseinandersetzungen mit den Mächtigen seiner Zeit auf das allgemeine Priestertum aller Gläubigen hingewiesen. Das hatte damals viele Menschen ermutigt, sich eine eigene Meinung zu bilden. Dafür bin ich den Reformatoren sehr dankbar. Ohne das Diskutieren über die 95 Thesen wäre der Begriff vom allgemeinen Priestertum nicht entdeckt worden.
A.S.: Da geben Sie mir ein gutes Stichwort: Priestertum aller Gläubigen. Luther hat das in seiner drastischen Sprache damals so ausgedrückt: „Alles was aus der Taufe gekrochen ist, das mag sich rühmen, dass es schon zum Priester, Bischof, Papst geweiht sei, obwohl nicht einem jeglichen ziemt, ein solches Amt zu üben.“ Luther meinte damit: Die höchste Würde, die ein Mensch besitzt, erhält er nicht durch das, was er leistet oder welches Amt ihm verliehen wurde, sondern durch die Taufe. Denn mit der Taufe spricht Gott uns zu: Du bist ein wertvoller und geliebter Mensch. Gott sagt „ja“ zu dir. Und dieses „Ja“ geht all deinem Tun und Vermögen voraus. Für mich hat dieser Gedanke mehrere Konsequenzen:
1. Luther leitete aus dieser Überzeugung das allgemeine Recht auf Schriftauslegung ab und übersetzte daher die Bibel in ein allgemeinverständliches Deutsch. Wir dürfen uns nicht vorschreiben lassen, was wir zu glauben haben, weder durch Päpste und Priester noch durch moderne Heilsversprecher unserer Zeit, wie sie uns über Facebook, Fernsehen oder andere moderne Medien begegnen. Darum: Lasst euch nichts vormachen, Leute, weder von denen da oben noch durch die Lügenpropheten unseres Medienzeitalters. Bildet euch. Und bildet euch eure eigene Meinung. Ihr habt’s drauf! Du, und du, und du, und du, ihr alle seid Priester, von Gott bejahte und begabte Menschen.
2. Dann aber auch der Aufruf an diejenigen, die Einfluss haben. Die nötige Macht. Oder das nötige Geld: Haltet euch nicht für etwas Besseres. Und vergesst nicht: Das letzte Hemd hat keine Taschen. Wenn es wirklich drauf ankommt, zählen nicht deine Leistung und deinPortmonee, sondern ganz andere Dinge... Bescheidenheit und Demut ist keine Schande, sondern eine Gabe. Nutze deinen Einfluss lieber, um Gutes zu tun. Gerade denen gegenüber, die von ihrer von Gott verliehenen Würde nur wenig spüren. Am Rande: Ich finde übrigens euren neuen Papst cool und meine, der lebt diese Haltung wirklich vorbildlich vor.
3. Und das heißt im Umkehrschluss: Würde steht aber auch denjenigen Menschen zu, die in unserer Leistungsgesellschaft auf der Verliererstraße stehen, die gezeichnet sind von Armut, Behinderung, Alter und Demenz, oder von drohender Abschiebung, die hier auf unserem feinen Stadtfest kaum vorkommen und um die wir sonst lieber einen Bogen machen. Diese Menschen brauchen keine Almosen, sondern Gerechtigkeit, Zuwendung, Integration, die Erfahrung: Ich bin gewollt, ich gehöre dazu! Und dazu muss unsere Politik, dazu können wir aber auch wir alle beitragen.
4. Und schließlich finde ich, wenn wir hier alle Priester sind, ja, Bischöfe und Päpste, Sie, und Sie und Sie und Sie, und der da hinten auch, und auch die Kinder, die auf dem Kinderland am Volksbankparkplatz mitmachen, dann hat das auch Konsequenzen für unseren normalen Umgang. Wir haben etwas zu sagen. Aber es lohnt sich auch, aufeinander zu hören. Zuzuhören. Und das ist allemal Grund zu feiern. Denn Gott ist uns nah. Einem jeden und einer jeden von uns. Und von unserem Zusammensein will Segen ausgehen.
D.J.: Vielen Dank. Das war eine umfangreiche Erklärung. Darüber würde ich gerne viel öfter mit anderen sprechen. Hoffentlich haben wir dazu immer wieder Gelegenheit – in unseren Gemeinden, auf diesem Stadtfest, heute und alle Tage unseres Lebens. Amen
Der Gottesdienst in der Öffentlichkeit
Beten in der Öffentlichkeit.
Andererseits: Gebet in der Erstkommunonvorbereitung.
Beten am Flughafen. ...
Das ist so eine Frage: https://twitter.com/felixgoldinger/status/905786984861491201
Die kleinen Pöbelversuche während des Gottesdienstes zu Beginn des Stadtfestes zeigen, dass da etwas nicht zueinander passt.
Andererseits: Ist mein Leben etwas anderes als mein Glaube? Nein.
Aber mache ich deswegen ein Kreuzzeichen, wenn ich im Restaurant vor dem Essen bete?
Hier schreibe/sitze/esse/gehe ... ich.
Nach meiner Erfahrung nimmt die Vielfalt menschlicher Ausdrucksweisen in der weltweiten Öffentlichkeit zu. Das heißt nicht, dass es immer friedlich bleibt. Aber es wird nicht mehr für außergewöhnlich gehalten, wenn jemand lebt, neben mir, anders gekleidet und anders empfindend. Was wir im kirchlichen Binnenbereich vorwiegend als Egozentrik bezeichnet haben, verstehen auch wir mehr und mehr als Vielfalt. Menschen leben unterschiedlich. Was mir fremd ist, ist nicht falsch. Gut wäre, zu fragen (!Parzival!), oder mit anderen Worten: Gesprächskultur pflegen.
Menschen, die mich kennen, erwarten von mir, dass ich bete. Andere mögen es interessant oder dumm finden. Es ist so vieles möglich. Aber wenn nicht auch ich, wenn nicht auch wir Christen unser Leben, unser Lebendigsein entfalten: Wozu sollte es dann gut sein?